Wer dient hier eigentlich wem? – Vom Profitfokus zur wechselseitigen Nutzenmaximierung
Würde man eine Umfrage durchführen, um herauszufinden welcher Zweck einem Unternehmen am ehesten zugeschrieben wird, so wäre das Ergebnis vermutlich recht eindeutig: Geld verdienen, Umsatz machen, Gewinne maximieren.
Was zunächst plausibel klingen mag, stellt sich bei genauerem Hinsehen als eine weit verbreitete und problematische Fehlannahme heraus.
Nicht nur ist es falsch, den Zweck eines Unternehmens auf den finanziellen Teil der Wertschöpfung zu reduzieren. Es ist ebenfalls zu kurz gedacht, davon auszugehen, es gäbe nur einen einzigen Zweck, den eine Organisation zu bedienen hätte.
In Wirklichkeit bestehen Organisationen aus einem “unüberschaubaren und widersprüchlichen Geflecht von Zwecken, Zielen und Interessen” [2]. Nicht die Optimierung mit Blick auf einen singulären Zweck, sondern die Fähigkeit, mit Widersprüchen zurechtzukommen und diese zu integrieren, macht Organisationen leistungs- und zukunftsfähig.
Das zugrundeliegende Paradigma gibt das Verhalten vor und unser Verhalten sorgt wiederum für den Fortbestand des Paradigmas. Wenn Unternehmen also ihren Zweck in der Maximierung des Gewinns sehen und alle Beteiligten dieses Paradigma übernehmen, ausleben und weitergeben, wird sich alles andere zwangsläufig diesem Zweck unterordnen müssen. Wozu das führt, konnten wir in den letzten 20 Jahren beobachten: Gieriger (Geld-)Konsum ohne Rücksicht auf Verluste mit nicht abschätzbaren Folgewirkungen in der Zukunft.
Der Taylorismus – Wohl oder Übel?
Zu den heutigen Auswüchsen der Konsumgesellschaft hätte es nicht ohne einen enormen und anhaltenden Zuwachs an Produktivität und Wohlstand kommen können. Einen enormen Einfluss auf den Zuwachs des 20. Jahrhunderts hatte der Taylorismus. Durch Zentralisierung, Standardisierung und Hierarchisierung konnten nie da gewesene Effizienz- und Wirkungsgrade erreicht werden, von denen der Westen bis heute profitiert. Auf der einen Seite haben wir dem Taylorismus also viel zu verdanken.
Unternehmen ...
- lernten ihre Ressourcen deutlich effizienter einzusetzen
- waren in der Lage, ihre Angebote weltweit zu vermarkten und zu vertreiben
- konnten enorme Produktivitäts- und Renditezuwächse verzeichnen
Mitarbeiter ...
- erhielten mehr Gehalt
- hatten mehr Pausen und mehr Urlaub
- mussten in Summe kürzer arbeiten
- konnten auf der Arbeit Beziehungen entwickeln und Teil einer Gemeinschaft sein
Gesellschaft ...
- sah für die meisten Menschen neben der Arbeit mehr Freizeit vor
- hielt unzählige Möglichkeiten zum Konsum bereit: nie da gewesene Produkte und Dienstleistungen in vielen verschiedenen Formen und Farben aus aller Welt
- gedeihte durch den Zuwachs an Gesundheit, Produktivität und Wohlstand
"Kaum ein Unternehmer, Mitarbeiter oder Bürger hätte die Verhältnisse vor mit denen nach Taylor tauschen wollen."
– Mark Poppenborg
Es ist ein Gesetz der Natur und Resultat der Entropie: das was Erfolg beschert, wird früher oder später zum Verhängnis, wenn es nicht gelingt, eine Übertreibung zu verhindern und sich rechtzeitig an die dynamischen Umweltbedingungen anzupassen. Lösungen von gestern erzeugen früher oder später die Probleme von morgen.
Heutzutage kommt der Taylorismus in der Regel schlechter weg. Meist zurecht: die maschinelle Sicht auf Organisationen und Mitarbeiter entspricht nicht der Dynamik und Komplexität, der wir im Außen begegnen und auf die wir zu ihrer Bewältigung angewiesen sind. Zentralisierung, Standardisierung und Hierarchisierung stehen den zentralen Paradigmen der Zukunft Dezentralisierung, Individualisierung und Demokratisierung diametral gegenüber. Die Paradigmen des Taylorismus stehen heute mit vielen negativen Aspekten im Zusammenhang:
- Entmenschlichung: Durch den Fokus auf Effizienz und Produktivität wird der menschliche Aspekt der Arbeit vernachlässigt.
- Standardisierung: Standardisierte Prozesse schränken die Kreativität und Flexibilität von Mitarbeitern ein und stören den Ideenfluss.
- Hierarchie: Autoritäre Führung, Anreizsysteme und Motivierung demotiviert Mitarbeiter schränkt ihre Möglichkeiten ein, sich einzubringen.
- Geringere Autonomie: Die strikte Kontrolle der Arbeitsprozesse schränkt Mitarbeiter ein und gibt ihnen das Gefühl, ersetzbares Teil einer Maschine zu sein.
- Geringere Flexibilität: Eine zu starke Fixierung auf Prozesse erschwert die Anpassung an Veränderungen in der Umgebung.
- Konflikt mit Mitarbeiterinteressen: Ein Fokus auf Effizienz und Gewinn führt zu Konflikten mit den Interessen der Mitarbeiter, wie insbesondere ihrer Gesundheit und ihren Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung.
- Mangelnde Kundenzentrierung: Ein zu starker Fokus auf Optimierung (Effizienz) führt zu einer Vernachlässigung der Kundenbedürfnisse und geringer Innovationskraft.
- Soziale Auswirkungen: Der Taylorismus trägt unter anderem zur Entstehung von Klassenunterschieden und der Abnahme des Gemeinschaftsgefühls bei.
Der Taylorismus bringt neben den Vorteilen vielfältige Probleme mit sich, die sich für Unternehmen, Mitarbeiter und die Gesellschaft zunehmend spürbar machen. Was aber hat sich verändert, dass die Prämissen und Strategien, die gestern noch erfolgreich waren, zunehmend an ihre Grenzen stoßen?
Von der blauen Welt zur roten Welt – Kompliziert oder doch komplex?
Zunehmende Komplexität und Dynamik sind die treibenden Kräfte des Wandels. Der Übergang vom Industrie- ins Informations- und Wissenszeitalter geht damit einher, dass der Taylorismus von einem neuen Paradigma abgelöst wird: der Netzwerkökonomie. Diesem "Big Shift" liegt die zunehmende Vernetzung und veränderte Kommunikationsweisen zugrunde. Phänomene, die zu großen Teilen auf die digitalen Technologien und deren Verbreitung zurückzuführen sind.
Komplexität
- Komplexität steigt, wenn Vernetzung und die Entstehung nicht-linearer Effekte zunehmen.
- Komplexität führt einerseits zur Überforderung und zum Stresskollaps von Systemen.
- Komplexität führt andererseits zur Erzeugung kreativer Ideen und Innovationen.
Dynamik
- Dynamik entsteht durch die Innovationen des Wettbewerbs.
- Dynamik muss ausgehalten und selbst erzeugt werden, um überleben zu können.
- Dynamik lässt sich nicht mit Wissen, sondern nur mit Ideen begegnen.
Einfach ausgedrückt bedeuten Komplexität und Dynamik für Menschen wie Organisationen, dass sie ständig mit Überraschungen konfrontiert sind, die sich mit Wissen alleine nicht bewältigen lassen. Das ist es, was komplexe und komplizierte Probleme voneinander unterscheidet:
- Komplizierte Probleme (blau) können mit dem richtigen Wissen verlässlich gelöst werden. Jede Überraschung ist auf ein Mangel an Wissen zurückzuführen. Sowohl Mensch als auch Maschine können mit Wissen dienen.
- Komplexe Probleme (rot) hingegen sind auf Ideen angewiesen. Ideen werden erzeugt von (lebendigen) Menschen in den richtigen Kontexten, nicht von (toten) Maschinen.
Komplizierte und komplexe Probleme sind zwei Seiten einer Medaille: sie existieren nicht getrennt voneinander und wechseln sich im Rahmen der Wertschöpfung ständig ab. Gerade deswegen ist die Unterscheidung so wertvoll. Sie erlaubt es Unternehmen zu überprüfen, ob den unterschiedlichen Problemen mit den jeweils richtigen Methoden begegnet wird.
Der entscheidende Unterschied zwischen den Zeiten des Taylorismus und denen der Netzwerkökonomie ist darin zu finden, dass sich die Relation zwischen komplizierten und komplexen Problemanteilen drastisch zugunsten der komplexen Anteile verschiebt. Das bedeutet, dass die Fähigkeit mit Ungewissheit umzugehen und Neues zu lernen immer wichtiger wird, wenn Überforderung der Normalzustand ist.
Viele unserer Krisen und Konflikte sind darauf zurückzuführen, dass die Systeme, in denen wir leben und arbeiten auf das Lösen komplizierte Probleme ausgerichtet sind. Da eine äußerst erfolgreiche Lösung zur Bewältigung komplizierter Probleme in der Standardisierung, Hierarchisierung und Zentralisierung gefunden wurde, fällt es vielen Menschen und Organisationen schwierig, sich von genau diesen Methoden und Mustern zu lösen.
Dazu müssen bisherige Entscheidungsprämissen und Bewältigungsstrategien zunächst erkannt und hinsichtlich ihrer funktionalen und dysfunktionalen Anteile überprüft werden.
Von Theorie X zu Theorie Y – Zur Wiederbelebung von Menschen und Organisationen
Der Taylorismus versteht den Menschen als stets rational denkend und egoistisch handelnd. Der Mensch wird als billiger Produktionsfaktor angesehen und somit zum Zahnrädchen einer Profiterzeugungsmaschine degradiert. Da Arbeitsteilung, zentrale Steuerung und Kontrolle von enormen Erfolg geprägt waren, fällt es vielen Unternehmen heute schwierig, sich von bewährten Denk- und Handlungsmustern zu lösen, geschweigedenn diese überhaupt zu erkennen. Noch immer steckt das damit verbundene Menschenbild des ‘homo oeconomicus’ tief in den Knochen von Menschen und Organisationen.
Solange Egoismus und Mistrauen das Menschenbild prägen, wird das kreative Potenzial, welches jedem Menschen innewohnt, untergraben und dessen Entfaltung systematisch verhindert. Wertvolle Ideen, die das Potenzial haben, zu relevanten Innovationen heranzuwachsen, bleiben im Verborgenen. Schwache, aber bedeutende Signale, die auf Chancen und Risiken hinweisen, werden übersehen oder ignoriert.
Douglas McGregor bringt es in ‘The Human Side of Enterprise’ (1960) mit seiner Gegenüberstellung von Theorie X und Theorie Y auf den Punkt. Im Buch ’Komplexithoden – Clevere Wege zur (Wieder)Belebung von Unternehmen und Arbeit in Komplexität’ von Niels Pflaeging und Silke Hermann stößt man auf folgende Zusammenfassung:
Theorie X: beschreibt Vorurteile über den Menschen
- Menschen arbeiten nicht gern, versuchen Arbeit zu vermeiden, müssen extrinsisch motiviert, verführt, gezwungen werden
- „Führung“ degradiert zu Weisung und Kontrolle
- Mündet in Verhaltenskontrolle, Behaviorismus
- Begründet autoritären Herrschaftsanspruch über andere
- Kleinteilige Vorgaben und Kontrollen führen zu passivem Arbeitsverhalten und Demotivierung
Theorie Y: beschreibt den Menschen in seiner wahren Natur
- Menschen müssen zwar arbeiten, streben aber nach Selbstentfaltung, sind intrinsisch motiviert und wollen leisten
- Ermöglicht Führung – als Gestaltung der richtigen Bedingungen
- Humanistisch-aufgeklärtes Menschenbild
- Stets erwachsener Umgang miteinander
- Selbstbestimmtes Arbeiten und Raum für Selbstverwirklichung führen zu Engagement, Kreativität und Verantwortungsbereitschaft
Diese Gegenüberstellung führt uns zu einem alternativen Paradigma: nicht die Maximierung von Gewinn, sondern die Maximierung von Nutzen mit Blick auf alle Beteiligten (Stakeholder statt Shareholder) wird zum übergreifenden Zweck eines jeden Unternehmens.
Integrative Wertschöpfung: Raum für Sinn und widersprüchliche Zwecke
Der übergreifende Zweck eines Unternehmens ist also darin zu finden, heute und morgen einen möglichst großen Nutzen für zahlende Kunden zu stiften, um so einen Beitrag zur Versorgung der Gesellschaft zu leisten. So kann der Wertschöpfungskreislauf zwischen Inhaber, Mitarbeiter, Kunde und Gesellschaft aufrecht erhalten und alle Zwecke bestmöglich bedient werden.
Die Herausforderung des Organisierens liegt dabei in der Integration der unausweichlichen Widersprüche, Paradoxien und Dilemmata, die natürlicherweise dadurch entstehen, dass unterschiedliche Zwecke, Ziele und Interessen verfolgt werden.
Ist der Inhaber sich diesem zentralen Zweck eines Unternehmens bewusst, wird er dafür sorgen, dass sich die Mitarbeiter so gut wie möglich im Sinne des Kundennutzens einbringen können. Wird Mitarbeitern ein solches Umfeld bereitgestellt, entfalten sie ihre natürlichen Kräfte und sie nutzen ihre Ressourcen eigenwillig, um den gemeinsamen Zweck zu bedienen. Jeder ist intrinsisch motiviert und bereit, gemeinsam zu lernen und zu leisten.
Erst aber durch wertschätzende Kunden, die das Nutzenangebot in Anspruch nehmen und bereit sind dafür zu zahlen, wird die Wertschöpfung möglich und für alle Beteiligten und damit auch für die Gesellschaft zu einer sinnvollen Angelegenheit. Daher kommt der Kundenzentrierung eine hohe Bedeutung zu. Erst das Lösen relevanter Probleme bzw. das Erfüllen menschlicher Bedürfnisse setzt den Kreislauf in Gang. Ohne einen Inhaber gäbe es keine Firma und ohne Mitarbeiter könnten die Kunden nicht bedient werden. Aber erst wenn der Kunde sich entscheidet, sein Vertrauen durch eine Kaufentscheidung zum Ausdruck zu bringen, wird die Wertschöpfung legitimiert.
“Es braucht […] den Einklang von Sinn, Zweck und Mitteln, damit ein „gutes” Unternehmen entstehen kann.”– Jan-Erik Baars
Alles dem Rendite- und Effizienzdenken unterzuordnen war lange Zeit eine verlässliche Erfolgsstrategie. In Zeiten hoher Komplexität und Dynamik reicht singuläres und unterkomplexes Wettbewerbsdenken nicht mehr aus, um Wertschöpfung zu betreiben.
Wer heute erfolgreich sein und morgen weiter bestehen will, wird alleine nicht weit kommen. Komplexität lässt sich nur mit Komplexität begegnen. Um mit Dynamik zurechtzukommen und Komplexität nutzen zu können, gilt es daher von der Einzelintelligenz über die Teamintelligenz zur Netzwerkintelligenz zu gelangen. Das erfordert Übung im Umgang mit Komplexität.
Es kommt auf das Ganze an. Für das Ganze braucht es Kooperation und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung mehr als Konkurrenzkampf und Profitgier.
Was bedeutet das für Dein Unternehmen?
- Überprüfe die Paradigmen, die der Organisation und dem eigenen Verhalten zugrundeliegen und erkenne die Bedeutung immaterieller Werte. Ein einseitiger Fokus auf den finanziellen Gewinn oder andere rein materielle Werte wird sich als zunehmend problematisch erweisen. Unser Vorschlag für ein Alternativparadigma lautet: Menschen- und Kundenzentrierung mit dem Ziel Wertschöpfung zu erhöhen.
- Integriere Mitarbeiter, Kunden und Partner stärker in die Wertschöpfung, um schwache Signale zu erfassen und um den Umgang mit Widersprüchen und Paradoxien zu meistern. Wie können Ideen von Mitarbeitern, Kunden und Partnern in die Wertschöpfung einfließen und zu Innovationen heranwachsen?
- Ein ständiges Aushandeln der Ziele, Zwecke und Interessen ist entscheidend, um einen gemeinsamen Fokus herzustellen. Fördere und fordere die Kommunikations- und Konfliktbewältigungsfähigkeiten aller Beteiligten, damit Probleme durch konstruktive Dialoge und Diskussionen zu Lösungen werden. Was steht der Wertschöpfung im Weg und wo treten wiederkehrende Konflikte auf?
- Achte auf eine ausgewogene Balance zwischen kurzfristigen und langfristigen Zielen. Als Unternehmer bist Du oft im Tagesgeschäft gefangen. Langfristige Überlegungen kommen dann häufig zu kurz. Eine Strategie, die sowohl kurzfristige Erfolge als auch langfristige Perspektiven berücksichtigt, führt zu einer nachhaltigen Wertsteigerung des Unternehmens. Was ist heute wichtig, um morgen und übermorgen weiterhin erfolgreich zu sein?
- Werde dir den Bedürfnissen von Mitarbeitern, Partnern und Kunden bewusst, indem Du dich regelmäßig mit ihnen austauschst (Zuhören!) und die Beobachtungen zu Einsichten verdichtest. In wie weit werden die Bedürfnisse durch Produkt, Service und Kommunikation verlässlich erfüllt?
- Eine gemeinsame Vision und Mission kann als gemeinsamer Bezugspunkt dienen und inmitten all der Widersprüche für Sinn, Orientierung und Vertrauen sorgen. Voraussetzung ist, dass sich jeder mit der Vorstellung von heute und morgen identifizieren kann. Sorge daher für einen regelmäßigen Austausch mit Blick auf mögliche Zukünfte, geteilte Ambitionen und eventuelle Sorgen, um Klarheit zu schaffen, Ressourcen zu aktivieren und Motivation zu wecken. Welche gemeinsamen Zwecke werden verfolgt und welche Bedeutung wird dem Ganzen zugeschrieben?